Die einfachste Art, einen Rohstoff (Primärstoff – siehe auch: Vom Rohstoff zur Speise) geschmacklich zu heben, wird durch „Vermehrung“ seiner eigenen (schmeckfähigen) Anteile erreicht. Da in allen Nahrungsrohstoffen Natrium– und Chloridionen vorhanden sind, wird der jeweilige Eigengeschmack durch Salzen (Ausnahme: Obstsalat) verstärkt. Auf diese Weise erlangt ein Rohstoff/eine Speise eine arteigene Fülle, nicht aber ein zusätzliches Aroma. Die direkte Aufnahme benötigter Salzmengen würde eher Widerwillen hervorrufen, sodass mit dem Untermischen dieser Mineralien in die Speise (Verdünnungseffekt) ein doppelter Nutzen erzielt wird: Sie schmeckt besser (voller) und der Körper bekommt, was er benötigt. Dieses biologische Junktim von Geschmack und Körpernutzen ist eine genetisch Kontrollinstanz, die hinter allen Zubereitungszielen steht, von ihr überwacht und gesteuert wird.

Für das Aroma sind vielfältige akzentsetzende Sekundäranteile (vor allem Kräuter, Gewürze, Alkoholika u.a.m.) bedeutsam, deren Inhaltsstoffe vor allem pharmakologisch und psychotrop wirksam sind.

Schauen wir auf die Technik der (zunächst) geschmacklichen Verbesserung mittels Ergänzung rohstoffeigener Komponenten an drei Beispielen:

1) Obstsalat: Bei der Herstellung eines Obstsalates (einer Protospeise!), werden als Zutaten (Sekundäranteile) Läuterzucker, bei Bedarf Zitronensaft und evtl. ein Schuss Kirschwasser verwendet. Grund: Obst enthält sowohl Zucker als auch Fruchtsäuren. Kirschwasser, ein Obstbrand aus vergorenen Kirschen (also von Früchten stammend), setzt einen aromatischen Akzent und wirkt stimmungshebend.1

2) Möhrenspeise: Sie ist eine (einfache) Speise, deren Eigengeschmack durch die Ergänzung von (wenig) Salz und etwas mehr Zucker gehoben wird. Beide Sekundäranteile liegen in der Möhre in vergleichbaren Mengenverhältnissen vor und werden so noch deutlicher. Weitere Ergänzungen, wie Zwiebeln, Muskat und Butter, haben zwar aromatisch keine Primärstoffnähe, erfüllen aber die weiter oben formulierten Funktionen. So enthalten Zwiebeln Senföle, die u.a. einen antibiotischen Zweck haben. Muskat hat neben seiner keimtötenden Qualität vor allem psychotrope Effekte (da das Myristicin in der Leber zu Amphetamin umgewandelt wird), was unsere Stimmung hebt; Butter gleicht u.a. den fehlenden Nährstoff Fett aus.

3) Beispiel Tatar

Das Besondere dieser Fleischzubereitung ist, das sie ohne thermisches Garen auskommt. Tatar wird roh verzehrt und gehört (nach der im Aufsatz „Vom Rohstoff zur Speise“ vorgeschlagenen Begriffsordnung) zur Gruppe der Protospeisen. Im Sinne des Speisen-Dreiecks ist der Primärstoff Rind. Hier: sein mageres, hochwertiges Muskelgewebe (z.B. Filet) in Form von Rinderhack. Der alleinige Genuss von rohem Hack ist eher abstoßend. Deshalb wird diesem Produkt eine Vielzahl von Sekundäranteilen zugesetzt, die ihrerseits als einzelne Nahrungskomponenten ebenfalls unattraktiv sind (siehe Tabelle).

Sekundärstoffe            Sensorische Effekte (bei alleinigem Verzehr)

Zwiebelwürfel

Schmecken scharf, niemand käme auf die Idee, sie gabelweise zu essen

Senf

Schmeckt eher abstoßend, ist scharf

Pfeffer

Scharf, brennend, ohne jedweden Appetitstimulus

Kapern

Deutlich bitter, als alleinige Komponente auf dem Teller unattraktiv

Gewürzgurkenwürfel

Durchaus pikant; Säure stört allerdings zunehmend

Rohes Eigelb

Ohne sensorischen Reiz, eher unappetitlich, wirkt schleimig

Tabasco

Brennend scharf, ungenießbar

Sardellenfilet

nur in Kleinstmengen essbar, eher ungenießbar, sehr salzig

Salz

Ruft Widerwillen hervor; wenn überhaupt: nur in geringsten Krümelmengen erträglich

Auf „wundersame“ Weise werden diese mehr oder weniger ungenießbaren Zutaten in Verbindung mit dem wenig attraktiven Rinderhack zu einer höchst schmackhaften Einheit. Wie ist das zu erklären?

Das Schmackhafte und Pikante ergibt sich aus den äußerst zungenaktiven Komponenten, die vielfältig piken; ätherische Öle enthalten ebenfalls eine Schärfe. Alle Komponenten tragen eine aromatische Information, die aus dem rohen Fleisch hervortritt. Allein die schiere Menge an Scharf- und Bitterkomponenten führt zu einer starken Sekretion von Verdauungs- und Entgiftungsenzymen. Diese physiologische Reizantwort geschieht zwar vegetativ, wird aber als „Ereignis“ erlebt und gedeutet. Geht von dieser Ballung an Aromakomponenten keine Gefahr aus, dann wird das Schmeckerlebnis (mit starkem Speichelfluss) zu dem, was wir als schmackhaft bezeichnen.

Insbesondere bei Rohkost und anderen ungegarten Produkten werden keimtötende bioaktive Substanzen gezielt eingesetzt, um die natürlich vorkommenden mikrobiellen Belastungen zu reduzieren.2 Der moderne Mensch hat „gelernt“, dass rohes Fleisch, das mit vielfältigen Scharfstoffen (potente Bakterienkiller) zubereitet worden ist, gesundheitlich unbedenklich ist.3

Zum gekochten Blumenkohl oder Spargel würde eine derart geballte bakterizid wirkende Ergänzung keinen (biologischen) Sinn ergeben.

Die an diesen Beispielen nur skizzenhaft angedeuteten Sachverhalte verdeutlichen die multifaktoriellen Beziehungen und Funktionen der einzelnen Komponenten innerhalb der Speise. Diese innere Kohärenz kann von dem Schüler nur erfasst werden, wenn er den alles bedingenden biologischen Hintergrund seiner Rohstoffbearbeitungen zumindest in groben Umrissen kennt. Geschmacksempfindungen sind physiologisch-emotionale Reizantworten auf Merkmale von Nahrungsmitteln (unabhängig von ihren Werten, wie z.B. „vorzüglich“ oder „scheußlich“), deren Qualität auf diese Weise erinnerungsfähig wird. Bewährte und tradierte Rohstoffpaarungen mit der bloßen Sachfeststellung: „Es schmeckt besser!“, abzutun, hat keinen Erklärungswert, noch wird der Schüler ermuntert, tiefer in die Sachzusammenhänge einzudringen.

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1) Die Verwendung von Nüssen (Schalenobst, Nussfrüchte) und Schlagsahne (meist gesüßt)

 sind fakultative Ergänzungen; sie sind aromatisch geeignet und erfüllen

 (ernährungs-)physiologische Aufgaben.

2) Diese Fähigkeit, sowohl Gefahren als auch Nutzen der Nahrung für unseren Organismus

 bereits mit der Zunge erschmecken zu können, geht vermutlich auf unzählige

 Gleichgewichtsregulationen zwischen Nahrungsmerkmalen und deren Bedeutung für den

 Organismus zurück, die weit in die Stammesgeschichte des Menschen zurückreichen.

3) Rohes (ungegartes) Fleisch mit großer Oberfläche ist ein idealer Nährboden, besonders

 für Bakterien. 

18.12.2010, 17:07 von Günther Henzel | 22830 Aufrufe

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