Die aromatische Veredelung des Hauptrohstoffs (Primärstoffdominanz) – eine regionale Zubereitungspräferenz

Neben der nahezu unbegrenzten Möglichkeit, Nahrungsrohstoffe zu schmackhaften Speisen zu verarbeiten, kennt die europäische Küche auch das Prinzip der Primärstoffdominanz als bedeutendes aroamleitendes Zubereitungsziel. Diese Präferenz ist kulturhistorisch gesehen eine relativ junge Entwicklung in der Kochkunst. Sie achtet auf die aromatische Passung von Primär-stoff1 und aromawirksamen Sekundäranteilen2. Der arteigene Charakter, das typische Profil des betreffenden Rohstoffs, wird hier nicht durch Sekundäranteile verfremdet und/oder aromatisch überlagert; seine Besonderheit soll bewahrt werden. In unserem Kulturkreis gilt eine Aromakreation, die den Charakter des jeweiligen Hauptrohstoffs betont und zum „Glänzen“ bringt, als eine hohe Zubereitungskunst. Und das aus gutem Grund: Es müssen verschiedenste sensorisch relevante Biomolekülmischungen in eine physiologische Balance gebracht werden, in der die Aromakomponenten des Primärstoffs eine Bereicherung erfahren, nicht aber unkenntlich werden. 3

Wäre z.B. eine Kalbfleischzubereitung wegen aromadominanter Sekundäranteile nicht mehr als vom-Kalb-stammend zu erkennen, könnte dieser Primärstoff problemlos mit einem preiswerteren Rohstoff (z.B. Schwein) ausgetauscht werden. Oder würde der Hauptrohstoff, der zur Grundlage einer Suppe oder Soße verwendet worden ist, nicht mehr herauszuschmecken sein, wäre der Genuss dieser flüssigen Speisen zumindest fragwürdig. Wir wären irritiert, müssten raten, was wir da gerade aufnehmen, denn wir wollen wissen, was wir essen. Diese Neugier hat einen Grund: Im Wiederkennungswert eines spezifischen Aromas liegt eine sinnesphysiologische Orientierung, die die Ausschüttung passgenauer Verdauungsenzyme anregt (ein Aspekt der „Verdauungsökonomie“).

Wenn eine Lammjus oder die Blumenkohlrahmsuppe nach unserem Empfinden besonders gelungen ist, dann hat das mit der Balance der Aromakomponenten zu tun, die den Primärstoff nicht überlagern, sondern heben und/oder akzentuieren. Nur Rohstoffe, die aromatisch unattraktiv sind, werden bewusst aromatisch stark ergänzt (auch mit Soßen). Jede gelungene Aromakreation, die einen „langweilig“ schmeckenden Rohstoff4 (z.B. Reis, Kartoffeln) attraktiv macht, wird mit Staunen und Freude zur Kenntnis genommen.

Historisches

Bevor sich die dosierte Rohstoffkombination zur Betonung, Hebung und Akzentuierung des jeweiligen Primärstoffs als ein grundlegendes Verfahrensprinzip in der Küche etabliert hatte, war es ein langer Weg. Tradierte Zubereitungen ziel(t)en in erster Linie auf Entgiftung, Verdaulichkeit sowie auf Anreicherung mit psychotrop wirkenden Substanzen (vor allem aus Kräutern, Gewürzen, Pilzen oder Alkoholanteilen). Ein in fast allen Kulturen über Jahrtausende praktiziertes Zubereitungsziel. 5

Gewürze wurden von jenen, die es sich leisten konnten, geradezu im Übermaß verwendet, um in den Genuss psychotroper Effekte zu gelangen (römische Festgelage sind hierfür berühmt-berüchtigt). Die Nahrungsrohstoffe selbst, wie Fleisch, Gemüse, Fisch etc. dienten hier überwiegend als „Trägersubstanzen“, mit denen die „Rauschmittel“ in wirksamen Dosen aufgenommen werden konnten, ohne sich dabei zu vergiften. 6

Menschen von Stand und Adel waren (in der Regel) nicht vom Hunger bedroht und hatten genug zu essen. Ihnen boten die Mahlzeiten eine Möglichkeit, nicht nur die Stimmung zu heben, sondern sich regelrecht zu berauschen (zusätzlich mit Bier und Wein). Die ursprünglich vielfältigen medizinischen Funktionen von Kräutern und Gewürzen, deren bakterizide, fungizide, immunmodulierende, tumorhemmende, antikanzerogene Substanzen u.a.m. (Watzl B., Leitzmann, 2005)7, waren nicht mehr der Hauptgrund ihres Konsums. Vielmehr waren/sind die hirnchemisch wirksamen Substanzen die eigentlich „gemochten“ Anteile, denn sie verleihen den Speisen den besonderen „Kick“, der gesundheitliche Nutzen war nachrangig, wurde zu einer Art „Mitnahmeeffekt“.

Unterschiede der Zubereitungsvorlieben im Zusammenhang mit dem Klimagürtel

Schaut man in die asiatische Küche, wo es Fleischzubereitungen, wie z.B. Ente süßsauer gibt oder in die indische Küche, deren Speisen von Curry aromatisch dominiert werden, so ist hier die oben angedeutete aromatische Passung der Sekundäranteile mit dem Primärstoff nicht nur nicht zu erkennen, sondern auch gar nicht beabsichtigt. Von der Fischrohkost der Inuit ganz zu schweigen. Trotzdem lieben die Menschen diese Art der Zubereitung. Wenn aber in der europäischen Küche andere Nahrungspräferenzen als im Norden Alaskas, Zentralchina oder Indien vorherrschen, so muss es dafür biologische Ursachen geben, da die Zusammensetzung der Nahrung und damit einhergehende metabolische Vorgänge biologischen Gesetzen gehorchen. Zubereitungsvorlieben haben ausnahmslos im Klimagürtel ihren Entstehungsgrund.

Die im Klimagürtel und der Region vorkommenden Pflanzen und Tiere sind Grundlage für jeweils landestypisch etablierte, kulturgebundene Verfahrenstechniken. Diese finden wir als Touristen entweder nicht schmackhaft, als gewöhnungsbedürftig, exotisch oder besonders reizvoll. Allein dieses „Reaktionsspektrum“ verweist sowohl auf individuelle Dispositionen als auch auf den physiologischen Sachverhalt, nämlich, dass Essen allein Sache unseres Körpers ist: Er kontrolliert und bewertet in Sekundenbruchteilen den Molekül-Mix, den wir aufnehmen. Der Verstand wird zunächst nicht befragt und wird sich dann aber über die empfangenen Sinnesbotschaften ein Urteil bilden. Sensorische Abweichungen von unseren regional „geprägten“ Essvorlieben, den erwarteten Eigenschaften unseres Essens, fordern die Sinne sofort heraus. Sie sind Wächter und Hüter unserer Gesundheit und kontrollieren präzise, was dem Körper zugeführt wird. Erst wenn wir nach dem Probieren keinerlei negative Effekte erfahren und auch unser „Verstand“ keine Einwände hat, werden schließlich die neuen Speiseneigenschaften akzeptiert.8 Die Freude ist dann aber wieder groß, wenn wir unsere „vertrauten“ Speisen auf dem Teller haben.

Indische Küche

Betrachtet man den geradezu verschwenderischen Einsatz von Curry in der indischen Küche, sowohl zu Fisch, Fleisch und Gemüsespeisen, so muss es dafür Gründe geben. Curry, eine pflanzliche Kräutermischung aus etwa 13 verschiedenen Komponenten, ist nichts anderes, als eine Art pflanzliches Breitbandantibiotikum.9 Es vermag die in diesem Klimagürtel am häufigsten vorkommenden mikrobiellen Belastungen der Rohstoffe in ihrer Wirksamkeit soweit einzuschränken, dass entsprechende Erkrankungen nahezu ausbleiben. Die häufige Verwendung von Curry hat also einen regionalen, klimatischen Hintergrund. Hier wachsen die Pflanzen mit exakt jenen biologisch wirksamen Anteilen, die die dort lebenden Menschen in Bezug auf Ernährung für ein gesundes Leben benötigen. Currypulver ist damit eine Art preiswertes, prophylaktisch eingesetztes Hausmittel für die in diesen Regionen endemischen Erkrankungen (Darmparasiten, Schmarotzer, Durchfallkrankheiten etc.). Die pharmakologische Wirkung von Curry macht die Nahrung, die niemals frei von Keimen ist, nahezu ungefährlich. Jedenfalls treten viele körperliche Malaisen (z.B. Darmkrebs) durch regelmäßigen Verzehr Curry-haltiger Speisen nicht mehr so häufig auf.10

Die physiologische Bedeutung von Curry

Die Pflanzen, aus denen man eine Currymischung herstellt, haben aber nicht nur bakterizide oder fungizide Qualitäten, sondern weitere biologisch wirksame Inhaltsstoffe, die tumorsuppressiv, antikanzerogen, immunmodulierend wirken und besonders im Organismus von Warmblütern Reizkaskaden auslösen, die hirnchemisch wirksam sind. Die Verwendung von Curry ist daher auch ein stimmungshebendes Nahrungssupplement. Erst wenn „ausreichend“ Curry in der Speise herauszuschmecken ist, ist diese sowohl gesund als auch anregend. Die Rohstoffkomponenten der Speise selbst liefern die Nährstoffe und machen satt. Sie liefern aber nicht das signifikante Aroma, das macht der Curry, er ist aromadominant.

Die aromatische „Unterordnung“ der Rohstoffe unter die Dominanz des Currys wird schon deshalb nicht als „Qualitätsminderung“ oder „Verlust“ erlebt, weil der gesundheitliche Nutzen von Curry alles überstrahlt. Der menschliche Organismus scheint in diesen Regionen inzwischen „zu wissen“ (durch Prägungen im Mutterleib), dass Curry als Speisekomponente vorteilhaft ist und deshalb den so geschätzten aromatischen Stellenwert genießt. Zubereitungspräferenzen sind nicht aus „heiterem Himmel gefallen“, sondern stehen im Wechselspiel mit vorhanden Nahrungsquellen in Abhängigkeit zur Jahreszeit und dem Klimagürtel. Das Essen soll nicht nur sättigen, sondern gesundheitlich unbedenklich aufbereitet und stimmungshebend sein. Hier hat jede Region ihr spezifisches Handlungswissen im Umgang mit ihren Nahrungs-Ressourcen über viele Jahrhunderte (z.T. Jahrtausende) erworben.

Chinesische Küche

Betrachtet man die chinesische Küche, die vorwiegend mundgerechte, zerteilte Rohstoffe verwendet, die im Wok schnell unter ständiger Bewegung kurz angeschwitzt und schnell gegart werden, kennt kaum solitäre große Bratenstücke (vermutlich aus Mangel an großen Schlachttieren). Dass sie ihre Rohstoffe vor dem Garen klein schneiden, war/ist Ausdruck einer Notlösung, da es immer einen chronischen Mangel an Brennholz gab und deswegen das Garen rasch gehen musste.11 Kurzzeitiges Erhitzen im Wok reicht aus, um die schädigenden Komponenten der Pflanzen sowie deren bakterielle Fracht so zu minimieren, dass keine krankmachenden Dosen mehr vorhanden sind. Die vielfältige Mischung verschiedenster Gemüse bringt das benötigte Volumen für die Sättigung. Besonders fermentierte Extrakte (z.B. Sojasoße) liefern u.a. Inhaltstoffe (Glutamat, Aminosäuren), die als Ergänzung dem Gemüse einen „fleischartigen“ Ausdruck (Umami) verleihen.

Vom Sauergemüse zur Soße süßsauer

Insbesondere fermentiertes Gemüse gehört zur täglichen Kost der (nicht nur) asiatischen Landbevölkerung, da es nicht nur lagerfähig ist, sondern vielfältige Nähstoffe und bioaktive Substanzen liefert. Ihre oftmals niedrigen pH-Werte ließen sich durch Ergänzungen mit Zucker (Honig) abmildern. Die Kombination von Sauer und Süß hat sicher eine historisch lange Tradition und wird oft ergänzt mit Schärfe verschiedener Chili-Gewächse. Säure und Chili als Einheit sind extrem bakterizid und fungizid. Wird auch noch Knoblauch verwendet, so werden auch die resistenten Bazillen abgetötet. In feucht-warmen Klimazonen konnten auf diese Weise Rohstoffe über längere Zeit haltbar gemacht werden. Wenn sich in bestimmten Regionen dieser Erde die Verwendung von scharfen Gewürzen (Capsaicinoide), Säuren und vielen stark aromatischen Gewürzen etabliert haben, so belegt es das dortige Vorkommen vieler Keime und Lebensmittelverderber mithin die Notwendigkeit, Nahrungsrohstoffe vor dem Verzehr „entkeimen“ bzw. vor raschem Verderb schützen zu müssen. Diese sensorisch grenzwertigen Zubereitungspraktiken sicherten das Überleben auch in Zeiten des Mangels. Die Klimaverhältnisse der Inuit erlauben es, auch ohne Kräuter und Gewürze rohen (frischen) Fisch schadlos zu verzehren.

Auf welche Weise oder durch welchen Umstand in der chinesischen Küche die Verwendung einer eigenständigen süß-sauren Soße, die mit Essig und Zucker, auch Ingwer, Knoblauch und Sojasoße hergestellt wird, entstanden ist, lässt sich wohl nicht mehr aufklären. Ob diese Soße wirklich nur deshalb „erfunden“ wurde, um den Geschmack und Geruch des alternden eingepökelten Fleisches zu überlagern, ist letztlich nachrangig. Ihre Verwendung zu diesen Zwecken muss eher als eine Art Notprogramm zu Rettung sonst vielleicht verlorener Nahrung eingestuft werden. Die hohe Attraktivität der Verbindung von Säure und Süße hat einen evolutionären „Vorlauf“, und zwar im Genuss vollreifer Früchte. Sie gelten als Leckerbissen (in allen Kulturkreisen dieser Erde!). Wird einem weniger attraktiven Rohstoff nach der Zubereitung eine aromatisch so potente Soße beigeben, wird der Appetit kräftig angeregt. Sie signalisiert gute, gesunde Nahrung, weil es in der Natur keinen zuckerhaltigen Rohstoff gibt, der giftig ist!

Zucker ist nicht grundlos der größte sensorische „Lockstoff“, den die Natur hervorgebracht hat.12 Bedenkt man weiterhin, dass Enten sicher nicht zur Alltagskost der Landbevölkerung zählten, sondern stets etwas Besonderes waren (zu einem besonderen Anlass gegeben wurden), und auch Honig als aromatisches Süßungsmittel nicht grenzenlos zur Verfügung stand, dann ahnt man, wie kostbar diese edlen Bestandteile waren. Ente süß-sauer war ein Festessen.

Die Technik der gezielten aromatischen „Überlagerung“ von streng oder eher unappetitlich riechenden Schlachtkörperteilen, die nicht verworfen werden, ist auch in Europa üblich. Z.B. werden bei der Wurstherstellung, wie bei den verschiedenen Varianten der Thüringer Bratwurst, nicht zufällig starke Gewürze wie Majoran, Piment, Thymian, Muskat, Pfeffer u.a.m. verwendet. Das unattraktive Aromaprofil der Innereien-Bestandteile ist nicht mehr zu erkennen, es ist aromatisch überlagert. Weshalb soll nicht auch ein geschmacksintensiver süß-saurer Beiguss vergleichbare Funktionen erfüllt haben? Sein gesundheitlicher Nutzen ist jedenfalls unumstritten. Da ist es dann nachrangig, ob das Fleischprofil der Ente noch „erkennbar“ – oder besser noch: „gehoben“ worden ist. Höher als ein süß-saurer Zungenreiz kann kaum etwas sein, der Rest ist ein fleischtypisches Kauerlebnis, das der Körper ebenfalls hormonell „belohnt“.13

Heute in Europa

Die Entwicklung hin zur Hebung des arteigenen Profils unserer Primärstoffe ist u.a. dem Umstand zu verdanken, dass wir einerseits in einem gemäßigten Klimagürtel leben (hier gibt es weniger krankmachende Mikroorganismen als in den Subtropen) und andererseits heute über einen Hygienestandard verfügen, der einen massenhaften Einsatz bakterizider, fungizider Sekundäranteile – unabhängig davon, dass wir auch viele stark gewürzte Zubereitungen noch kennen und auch mögen – nicht mehr erforderlich macht. Und wenn wir uns berauschen wollen, so stehen vielfältige Rauschmittel zur Verfügung, die wir direkt konsumieren können.

Will man jedoch den Primärstoff zum „Glänzen“ bringen, seine Besonderheiten betonen, heben und nur in einem zuträglichen Spektrum aromatisch akzentuieren, dann geht das nur unter Beachtung der in den Rohstoffen selbst liegenden Aromakomponenten und die haben eine molekulare Basis. Ihre Kombinationstauglichkeit unterliegt den biophysikalischen Gesetzen, die über Sinnes-leistungen erkannt und bewertet werden können. Gewürze haben hier, neben der Appetitanregung, vor allem psychotrope Funktionen. Ihre pharmakologischen und verdauungsfördernden Qualitäten sind den meisten nur noch vom Hörensagen bekannt. Warum und wie die physiologischen Wechselwirkungen funktionieren, sind nur Neugierigen wichtig. Es sind Eigenschaften, die man von der Nahrung erwartet, sie werden „en passant“ mitgenommen. Im Falle einer Erkrankungen sorgen Ärzte und Apotheken für Abhilfe. Das Wissen um die medizinische Bedeutung der Kräuter und Gewürze stellt keinen Überlebensvorteil mehr dar.

In manchen Kulturen ist der Gesundheitswert oder der intensive geschmackliche Stimulus bedeutender, als die wie auch immer geartete Betonung des jeweiligen Primärstoffprofils. Ihre tradierten Techniken beruhen auf ein langes Erfahrungswissen im Umgang mit Rohstoffen. Insbesondere die Schärfeanteile haben vielfältige physiologische Effekte: Neben der bakteriziden Qualität und wegen der Schmerzreize (Trigeminus) ausgelöste Ausschüttung von schmerzlindernden Endorphinen wird auch der Trinkreiz aktiviert. Auf diese Weise werden nicht nur die hohen Dosen der zugeführten Inhaltstoffe verdünnt und damit ungefährlich, sondern ausreichend Flüssigkeit aufgenommen, die der Körper in den subtropischen Regionen durch Schwitzen ständig verliert.

Die Komponenten der täglichen Nahrung sind daher notwendige Bestandteile, sind die Voraussetzung unter erschwerten klimatischen Bedingungen gut überleben zu können. Oder anders: Die Strukturmerkmale der Nahrung spiegeln die gegebenen klimatischen/regionalen Bedingungen wider, aus denen sie hervorgegangen sind. Spätestens hier wird erkennbar, dass Essen und Trinken nicht auf die Zufuhr von Nährstoff- und Flüssigkeitsmengen reduziert werden dürfen (so wie das besonders in Deutschland landauf, landab gelehrt wird), sondern dass in den tradierten Verfahrenstechniken grundlegende Zusammenhänge zwischen Lebensbedingungen und Anpassung liegen und in den Produkten ihren stofflichen Ausdruck finden.

Die Bedarfe an Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten sowie Vitaminen und Co, sind Basisgrößen der Ernährung, die je nach persönlichen Lebensdaten variieren. Auch sind ihre Quellen (pflanzlicher o. tierischer Herkunft) für den Körper weniger wichtig, als ihr grundsätzliches Vorhandensein. Der Mensch braucht diese Bestandteile, sonst kann er nicht überleben. Seine körperliche Fitness, seine Lebenserwartung aber hängen vor allem von der Besonderheit der Auf- und Zubereitung dieser Basiskomponenten ab. Die Art der Zubereitung ist der grundlegende Faktor, der über den körperlichen Nutzen entscheidet.14Es sind die Anteile biologisch wirksamer Komponenten (u.a. die pflanzlichen bioaktiven Substanzen), die je nach Wuchsgebiet und Klimagürtel abweichende Wirkungsintensitäten haben und erst in bestimmten Mischungsverhältnissen (in Abhängigkeit zum jeweiligen Zubereitungsverfahren) ihren physiologischen Nutzen entfalten.15 Gesundheit und/oder krankheitsbedingtes frühes Ableben haben in Zusammenhang mit Ernährung hier ihre entscheidenden Ursachen. Ein Schwarzafrikaner aus dem Kongo benötigt eine anders zusammengestellte Nahrung als ein Inuit Nordgrönlands, nicht nur, was den Fettbedarf anbelangt. Auch liegen „Welten“ zwischen den zu erwartenden mikrobiellen Belastungen ihrer Nahrung.

Zum Primärstoff-Theoriekonzept

Die Systematik der aromatischen Passung zwischen Primärstoff (als aromaleitender Faktor) und aromawirksamen Sekundäranteilen versucht die naturwissenschaftlichen Hintergründe anzudeuten (siehe: “Vom Rohstoff zur Speise”). Vorlieben von Landesküchen haben den oben skizzierten Hintergrund und sich deshalb als Kulturhandeln durchgesetzt. Mit ihren Rezepturen wird ein optimales Gleichgewicht zwischen den geografischen Lebensbedingungen und damit zusammenhängenden körperlichen Bedürfnissen erreicht.

Die Profilbewahrung und/oder Profiloptimierung der Primärstoffe ist eine Art Ablösung und Weiterentwicklung von alten Zubereitungstechniken, die – wie bereits gesagt – auf Gesundheit und das Überleben zielen, also Entgiftung und Bekömmlichkeit zum Ziel haben. Die Aromaentwicklung und -betonung ist eine schmückende Erweiterung, die sensorische Ästhetik der Kochkunst, die den Appetit steigert und den Genuss optimiert. Sie missachtet alle Regeln der aktuell präferierten „Ernährungsempfehlungen“, befreit sich von Gesundheitsver- und -geboten, ist eine Zubereitungsoption, die aus sich selbst heraus glänzen will. Sie zielt auf sinnlichen Genuss, schöpft das Spektrum molekularer Möglichkeiten aus, die in unseren Nahrungsrohstoffe als Potentialis „verborgen“ liegen und deren Zauber wir dann, sofern sie erkannt und kunstvoll neu gemischt worden sind, im Bannkreis des Mundes erleben können.

Zwar ist die physiologische Balance der Inhaltsstoffe für den Körper wertvoll, denn solche Zusammensetzungen sind unproblematisch für unseren Stoffwechsel. Diese Molekülmischungen werden aber erst dann zu etwas „Besonderem“, wenn sie ein einzigartiges aromatisches Signum tragen. Es kann uns in einen Zustand höchster Genusszustände heben, wie wir es vielleicht als Kind beim Besuch des Schulfreundes erlebt haben, dessen Mittagessen von der Oma zubereitet worden war. Niemals zuvor hatte man derart wohlschmeckenden Kohlrabi und schmackhafte Möhren gegessen. Diese sensorischen Eindrücke haben sich für den Rest des Lebens unauslöschlich in unserem Speicher für gutes Essen eingeprägt.

Dieses subjektive Erleben, diese Sinnesfreude, ist das „Mehr“, dass es jenseits aller Nährstoffauslobung und schonenden, biologisch orientierten Handlungsweisen im Umgang mit unserer Nahrung geben kann, wir kraft kunstvoller Zubereitung aus den Biomolekülen hervorzaubern können, so wir dazu fähig sind.

Der Primärstoff gibt uns mit seinen Merkmalen eine Vorlage. Diese sollten wir nutzen und vollenden!

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1 Dominanter Rohstoff, Hauptbestandteil einer Speise.

2 Alle übrigen „Zutaten“

3 Wer in den Kosmos der Mikrowelt der Moleküle versucht einzudringen, gerät schnell an seine Vorstellungsgrenzen: Ein Mol H20 (etwa 18 g) enthält die unvorstellbar große Anzahl von etwa 6×1023 Molekülen, also ein 6 mit 23 Nullen (600 Trilliarden). Bei einer normalen Mahlzeit nehmen wir etwa 500-600g Nahrungsmoleküle auf.

4Großmolekulare, nicht wasserlösliche Komponenten, wie z.B. Stärke, Faserstoffe sind ausdrucksarm; ihre Oberfläche ist klein.

5 Nur bei existenziellem Hunger wird „alles“ gegessen, egal wie es mundet.

6 Nur bei religiösen Riten und Opferfesten war es üblich, pflanzliche Rauschmittel direkt zu konsumieren, die dann zu Halluzinationen führten und u.a. als Möglichkeit zur „Kontaktaufnahme“ mit Verstorbenen gesehen wurde (Orakel von Delphi, Schamanismus).

7 Watzl B., Leitzmann C.: Bioaktive Substanzen in Lebensmitteln, 3. unveränderte Auflage, Hippokrates, Stuttgart 2005

8Der Grund, fremde Zubereitungen zunächst nicht zu mögen, hat einen biologischen Hintergrund: Kräuter und Gewürze haben nicht nur vorteilhafte pharmakologische Effekte, sondern enthalten auch Gifte, mit denen unser Körper dann zurechtkommen muss. Den gesundheitlichen Vorteil entfalten sie daher überwiegend in den Ländern, in denen sie häufig verwendet werden. Ein Inuit benötigt keine extrem scharfe Ergänzungen zu seinen Robben- und Heilbuttmahlzeiten

9Hierzu: http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=1354

10Hierzu: http://heilpflanzen-info.ch/cms/blog/archive/2009/11/27/curcumin-aus-gelbwurz-antibiotikum-und-schutzfaktor-gegen-darmkrebs.html)

 

11 (http://www.haraldlemke.de/texte/Lemke_Weisheit_China_Essen.pdf, zweiter Hauptteil, S.173ff).

12Sein Verzehr wird mit der Ausschüttung von Serotonin (einem „Glückshormon“) belohnt. Säuger werden vom 1.Tag an u.a. mit Milchzucker ernährt. Das positive physiologische Feedback sichert die Erinnerung an vorteilhafte Nahrungsbestandteile. Nieder-molekularer Zucker lässt sich energetisch günstiger resorbieren als Stärke. Glukose wird u.a. vom Gehirn in großen Mengen benötigt und im Stoffwechsel dient Glucuronsäure (aus Glukose gebildet) als Substanz der Entgiftung – Phase II der Biotransformation.

13Die Fleischtextur ist so begehrt (hat einen stammesgeschichtlichen Hintergrund), dass sogar Sojawürste mit fleischartigem Kauwiderstand modelliert werden.

14Hier zählen auch fehlerhafte Produkte, wie z.B. zu stark erhitztes Fett (Acrolein), Verarbeitung von z.T. verdorbenen Rohstoffen, mangelnde Hygiene, untaugliches Holz zum Räuchern u.a.m.

15Vgl. auch:TCM oder traditionelle chinesische Medizin, die eine über 2000 Jahre alte Pflanzenheilkunde (Shennong ben cao jing) kennt; aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Traditionelle_chinesische_Medizin

20.09.2011, 18:59 von Günther Henzel | 72793 Aufrufe

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