Landauf, landab wird gefordert, schonende Garverfahren zu wählen. Wer dieses Gebot missachtet ist entweder unfähig gesunde und wertvolle Speisen zu produzieren oder gilt in Sachen Ernährung als beratungsresistent. Der anspruchsvolle Koch kann es sich bei seinen Kreationen nicht leisten, Vitamine & Co. zu ignorieren. Bei ihm wird alles frisch und schonend zubereitet – ein Muss in der Spitzengastronomie. Auch in den Vorschulen, Kindergärten oder vergleichbaren pädagogisch orientierten Einrichtungen werden die angehenden Zauberlehrlinge der Kochkunst auf Vitaminschonung und -erhaltung getrimmt. Seltsamer Weise wird aber nicht mit gleicher Intensität auf das Ziel „Wohlgeschmack“ hingearbeitet. Offenbar schmecken die Kochprodukte bereits von alleine, wenn die erwünschte Nährstoffdosis stimmt. Was die Zunge von den Vitaminschonverfahren hält, scheint nachrangig zu sein.

Es ist an der Zeit einmal zu fragen, ob das grundlegende Zubereitungsziel tatsächlich im Bewahren der Inhaltsstoffe liegt, oder ob dieses plausibel klingende Gebot vom „schonenden“ Zubereiten in Wahrheit nichts anderes ist als ein wirksames  Ernährungsplacebo für Menschen, die in ständiger Sorge um ihre Gesundheit sind. Des Weiteren lässt dieses Gebot die Vermutung aufscheinen, dass traditionelle Verfahren weniger gesunde Produkte liefern, und deshalb abgeschafft – zumindest aber verbessert – werden müssten.

Nur, alles, was wohldosiert im Topf herumwirbelt, gehorcht den Gesetzen der Physik und Chemie. Diese natürlichen Kräfte sind die Voraussetzung für die Entstehung äußerst appetitlicher Reaktionsprodukte. Man kann diese Prozesse daher nicht einfach „schonender“ machen, ohne sie zu verändern – es sei, um den Preis anderer Ergebnisse und Genusswerte. Ob diese dann wirklich an das Niveau tradierter Kochkünste heranreichen, muss letztendlich der Konsument mit seiner Zunge und seinem Darmhirn beurteilen. Niemand kann doch ernsthaft traditionelle Koch-, Brat- oder Rösttechniken etc., die auf der gesamten Welt in allen Kulturen angewendet werden, abschaffen wollen. Ihre jeweils fachlich richtige Anwendung liefert genau jene Kochprodukte, die uns das „Wasser im Munde“ zusammenlaufen lassen. Dieser Appetiteffekt liegt an einer Vielzahl sensorisch wirksamer physikalisch-chemischer Rohstoffveränderungen, die mit den Vitaminanteilen in keinem Zusammenhang stehen.

Was versteht man allgemein unter „schonend“ zubereiten?

Das Wort „schonen“ (mhd. schônen; freundlich, rücksichtsvoll)  hat im Kontext der Zubereitung die Bedeutung „rücksichtsvoll behandeln, vor Schaden bewahren“ und zielt auf das Erhalten der Textur und Farbe, den größtmöglichen Erhalt hitzelabiler Vitamine und anderer löslicher Nährstoffe. Möglich wird das,  indem man die Gartemperatur erniedrigt, Garzeiten minimiert, Warmhaltezeiten meidet und Dampfgartechniken präferiert.  Die Menge der Inhaltsstoffe des Ausgangsrohstoffs wird mit den Restmengen im fertig gegarten Produkt verglichen. Bleiben das Gefüge, die Farbe und viele Nährstoffe erhalten, ist das Garverfahren schonend.

Da bei den meisten traditionellen Garverfahren grundsätzlich Verluste eintreten, ist zu fragen, ob der menschliche Körper besser versorgt wird, wenn er schonend gegarte Speisen verzehrt. Das zu bestreiten wäre unsinnig.

Stimmungshebende Kochprodukte oder Vitaminschonung?

Es ist aber erstens danach zu fragen, ob es tatsächlich auf den Nährstoffinput ankommt und zweitens, ob uns die „weniger“ Nährstoff liefernden Verfahren nicht völlig ausreichend versorgen, uns aber darüber hinaus weitere Komponenten liefern, die einen für unsere Gesundheit unterschätzten Bereich betreffen: Die Hebung des Lebensgefühls durch psychotrop wirkende Anteile. Ihre Herstellung braucht in der Regel hohe Temperaturen und oft stundenlange Garzeiten. Auch an Fett darf nicht gespart werden.

Wer wie ein Buchhalter die Verluste abzählt um daraus den Gesundheitswert abzuleiten, übersieht, dass sich die Menschen in allen Kulturen sehr viel Arbeit mit ihren Zubereitungen machen, nicht aber um die Vitamine & Co. zu bewahren, sondern um Wohlgeschmack zu erzeugen.  Beim Garen und Zubereiten (wir lassen die Salate mal außen vor) geht es ausschließlich (neben der Entgiftung und Herstellung der Verdaubarkeit) um die Anreicherung pharmakologischer und stimmungswirksamer (psychotroper) Substanzen. Deshalb gibt es die ausgefeilten Kochtechniken, brauchen wir die Temperaturen, den technologischen und zeitintensiven Aufwand. Dabei gehen zwangsläufig hitzelabile Vitamine verloren. Hier möchte man ausrufen: „So what“?! Keines der Naturvölker hat sich je Gedanken über den „Erhalt von Nährstoffen“ gemacht und in keinem traditionellen Rezept finden wir Hinweise, die sich auf die Schonung von Nährstoffen beziehen. Eher ist schon die schwärmerische Anmerkung zu lesen, dass bestimmte Kräuter und Gewürze in richtigen Verhältnissen „alle Bitterkeit des Herzens dämpft … und deinen Geist fröhlich macht“. (Hildegard von Bingen; 1098-1179).

Schauen wir daher einmal in den Kochtopf und prüfen, ob Kochen im weitesten Sinne etwas mit „schonen“ zu tun hat?

Feuchte Garverfahren

Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass Auslaugeffekte (Osmose und  Diffusionsvorgänge) sowie Quellungsvorgänge (bis hin zum Garpunkt) in einem wässrigen Medium erfolgen. 100°C heißes Wasser ist bei vielen Zubereitungen nötig und gewollt. Das Garen in siedendem Wasser bezeichnet man als Kochen! So werden Kartoffeln, Nudeln und Reis – ebenso viele robuste Gemüse – stets gekocht, gedünstet bzw. geschmort. Mit einer niedrigeren „Schontemperatur“ – etwa runter bis auf 80°C – würde man ebenfalls den Garpunkt erreichen, allerdings erst nach erheblich längerer Gardauer. Und ob durch die längere Verweildauer in der heißen Garflüssigkeit bzw. im gesättigten Nassdampf tatsächlich bedeutend mehr Inhaltsstoffe erhalten bleiben, müsste im Einzelfall geprüft werden. Abgesehen davon, dass häufig das Kochwasser weggegossen wird, ist, neben der Oberfläche, insbesondere die Dauer der entscheidende  Wirkfaktor, der Einfluss auf Vitaminabbau und Auslaugung hat.

Runter mit der Temperatur und Gardauer? 

Wer hier also fordert: Runter mit der Temperatur und kürzere Garzeiten, verlangt nichts anderes, als einen vorzeitigen „Abbruch“ des Garvorgangs! Nach allem, was die Ernährungsforschung heute weiß, kann aber der menschliche Organismus mit seinen ihm zur Verfügung stehenden Verdauungsenzymen nur vollständig gegartes Gemüse optimal auswerten. Das setzt Vollgare voraus (keine Übergare)! Erst wenn alle Zellwände komplett gequollen und denaturiert sind, können unsere Enzyme an die nahrungsrelevanten Inhaltstoffe heran, die „gut versteckt“ in den Ballaststoffen liegen. Rohkost, rohes Gemüse kann unser Körper kaum aufschließen, da wir nicht (wie Pflanzenfresser) über Zellulasen verfügen.

Temperaturen unterhalb des Siedepunktes wählt man in der Regel nicht um Inhaltsstoffezu schonen, sondern um empfindliche Gewebe, die Textur des Rohstoffs nicht durch eine wilde Thermik zu zerstören. Garen in viel heißem Wasser unterhalb des Siedepunktes wird als Pochieren bezeichnet, was überwiegend bei Fischen und Eierspeisen  angewendet wird. 

Ein weiterer Grund, unterhalb des Siedepunktes zu Garen, liegt in der Absicht, einen Fond nicht durch Emulsionseffekte durch Oberflächenwallung zu trüben oder die im Wasser gelösten ätherischen Öle nicht durch starkes Kochen aus dem Wassermedium herauszuschütteln. Letztere sind aber keine Nährstoffe, sondern gehören zur Gruppe der bioaktiven Substanzen. Hier zielt die Aufforderung „schonend“ zu Garen auf die Erhaltung von Geruch und Geschmack – aber nicht auf den Erhalt oder die Optimierung von Nährwerten.

Trockenes Garen 

Bei Friteusetemperaturen von etwa 130°C -180°C sollen nicht nur Eiweiße denaturieren und Stärke (durch den jeweiligen Wasseranteil im Inneren des Gargutes) verkleistern – hier sollen sich aus gutem Grund an den Randschichten Röststoffe (Melanoidine) bilden. Warum? Sie enthalten unter anderem: Pronyl-Lysin – (das wirkt antioxidativ und wird auch als Krebshemmstoff diskutiert). Vor allem aber entstehen Beta-Carboline. Das sind opioid wirksame  Substanzen, die überall zu finden sind: in der Brot- u. Kuchenrinde, im Bier, in Schokolade, Kaffee u.a.m.), da sie nicht nur hirnchemische Effekte haben, sondern gleichzeitig auch die MAO (Monoamino-Oxidasen) hemmen. Das sind Enzyme, die unsere „Wohlfühlhormone“ (Endorphine), die beim Essen freigesetzt werden, abbauen. Werden sie durch Nahrungskomponenten „blockiert“, geht es uns länger gut. Denn die Halbwertzeit von Endorphinen beträgt etwa 5 Minuten. Wie gut, dass wir das Rösten erlernt haben und so Beta-Carboline erzeugen können, die den raschen Abbau der Glückshormone ausbremsen. 

Ist denn gar nichts am Gebot des „schonenden“ Garens dran? 

Rohstoffkombinationen sind für unseren Organismus dann besonders wertvoll, wenn sie uns nicht krank machen, sättigen und uns in einen Wohlfühlzustand versetzen. Letzterer entsteht durch psychotrope Anteile (sind keine Nährstoffe), die entweder selbst in den Rohstoffen enthalten sind oder als Garprodukte entstehen. Echte Sättigung wird im Körper durch eine Vielzahl von „Messfühlern“ für Eiweißanteile, Fette, Kohlenhydrate und Mineralstoffe (im Darm, Leber, Gehirn) vermittelt und hält für Stunden an. Ob in einer Mahlzeit „5“ Vitamine und „7“ Mineralstoffe mehr oder weniger enthalten sind, ist für unseren Organismus unbedeutend. Unser Körper ist ein „wandelndes Nährstoff-Depot“ und benötigt keine Vollwertqualität mit jedem Bissen.

Mit jeder Mahlzeit, die wir verzehren, nehmen wir – ob wir das wollen oder nicht – Nährstoffe auf. Lebensmittel, die keine Nährstoffe enthalten, gibt es nicht. Möhren enthalten diese, Fleisch jene und Kartoffeln wiederum andere Anteile. Es ist kaum möglich, über Garverfahren diese Inhaltstoffe so zu minimieren, dass das Essen wertlos würde. Da wir in der Regel jeden Tag etwas anderes essen, erhalten wir automatisch ein breites Spektrum an Nährstoffen – mal von dem einen mehr, mal von dem anderen weniger. Dieses „Weniger“ ist nun aber kein Grund zur Besorgnis, da uns die Evolution in unserer Eigenschaft als Allesfresser genau auf dieses „mal weniger“ vorbereitet hat. Wir speichern alles das (über Wochen, Monate und Jahre), was wir nicht Tag täglich in unserer Nahrung finden. Das ist für Allesfresser natürlich, da die sich mal von diesem, mal von jenem ernähren und deshalb nicht wie beim Hasen alles auf einmal in der Nahrung enthalten sein muss. 

Gehen unsere „Speicher“ in Richtung „Reserve“ (wie beim Benzintank), so meldet sich der Appetit mit Blickrichtung auf jene Rohstoffe, in denen dieser Nährstoff zu finden ist. Ein bewährtes evolutionsbiologisches Prinzip, das den endogenen (vegetativen) Kontroll-systemen folgt. Logik und Verstand werden nicht benötigt und sind auch nicht erwünscht, da sich der Verstand auch irren kann. Ein Auto, das mit halbvollem Tank über die Autobahn saust, ist mit Nichten „unterversorgt“ und hat bekanntlich keinerlei Leistungseinschränkung. Dies lässt sich problemlos auf die Funktionstüchtigkeit des menschlichen Organismus übertragen, dessen tägliche Nahrung den Vollwertkriterien nicht entspricht. 

Fazit

Es klingt so wunderbar vernünftig und plausibel, dieses „schonend Zubereiten“. Spätestens nach der Ausgabe des EU.L.E.N-SPIEGEL  mit dem Leitthema: „Opium fürs Volk – Nahrung für den Geist“ vom Januar 2009 sollte jedem aufgegangen sein, dass es bei der Zubereitung nicht um die Erhaltungen von Vitaminen, sondern ausschließlich um Wohlgeschmack und Bekömmlichkeit (eine sinnesphysiologische Koinzidenz) geht.

Nährstoffe sollte man vernünftiger Weise in Zeiten der Not und des Mangels „bewahren“. Sobald bessere Zeiten herrschen, stellt der Mensch andere Anforderungen an seine Nahrung, als die bloße Sicherung seiner Nährstoffe. In Europa gilt: Es gibt keinen Vitamin- und Mineralstoffmangel. Weshalb die große Sorge um deren Erhaltung? Ginge es tatsächlich nur um die Bewahrung von Nährstoffen, so könnten wir ein Rinderfilet durch den Wolf treiben, dazu (direkt vom Feld) frische Kopfsalatblätter reichen und ein Glas Leitungswasser trinken. Guten Appetit!

Ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, dass die Forderung nach schonender Zubereitung in Wahrheit nichts anderes ist als eine Verbeugung vor dem Altar der Gesundheitspropheten (Koerber, Männle, Bruker, Leitzmann, Bircher-Benner), die uns die vitalstoffreiche Vollwerternährung ersonnen – und uns unter das Joch des Vitaminezählens gebracht haben! Zumindest ist diese Werterhaltungskampagne ganz im Sinne der Gesundheitsindustrie. Schließlich bietet diese allerlei Vitamin-Supplemente und Functional-Food Variationen an, sobald wieder mal aus Allerweltsgründen der Nährstoffgehalt in unserer täglichen Mahlzeit niedrige Werte anzunehmen droht. Mit diesem Damoklesschwert der drohenden Unterversorgung lassen sich nachweislich Milliarden Umsätze erzielen. Der Markt der Ernährungsberatung, Küchengeräteindustrie, der Gesundheits- und Fitnesszentren boomt.

 Warum hören wir nicht endlich mal wieder auf unseren Appetit und essen ganz „beratungsfrei“ normal?

02.12.2009, 20:30 von Günther Henzel | 47824 Aufrufe

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