Ernährung und Gesundheit – Ein gedankliches Minenfeld
Das Thema Ernährung und Gesundheit bewegt die Menschheit vermutlich seit sie über Sprache verfügt und diese existiert nach heutigem Wissen bereits mehr als 100 000 Jahre (hierzu: http://de.wikipedia.org/wiki/ Christian_Lehmann_(Linguist). Inzwischen ist diese Sprachfähigkeit nicht nur Grundlage unserer alltäglichen Kommunikation, sondern sie ermöglicht uns auch, biologische Prozesse, Wechselwirkungen von Nahrungskomponenten auf den Organismus zu benennen und zu diskutieren. In einem solchen Gespräch beziehen wir uns entweder auf eigene Erfahrungen, auf Gehörtes oder – idealerweise – auf große Studien1. Leider sind deren Aussagen offenbar auch nicht immer der Weisheit letzter Schluss, weil sogleich andere Forscher antreten und Zweifel an der Validität dieser Studienaussagen anmelden.2 Dieses Hin und Her in Sachen „richtiger“ Ernährung ließ in den letzten Jahren nicht selten Wissenschaft und Ethik, Vernunft und romantisierende Weltsichten so heftig aufeinanderprallen, dass man den Eindruck gewinnen musste, bei diesem Thema handele es sich um „letzte Fragen“, um Sein oder Nichtsein. Woran liegt das? Was treibt die Menschen dazu, sich beim Thema „gesundes“ Essen derart unversöhnlich gegenüberzustehen und sich unablässig belehrend einzumischen?
Die Nährstoffe und bioaktiven Substanzen, ihr molekularer Aufbau und ihre Wirkung auf unseren Körper sind weitestgehend erforscht. Auch kennen wir die metabolischen Prozesse in Abhängigkeit zum Genotyp, Geschlecht, Alter und Krankheitszustand recht genau. Wir wissen um die Einflüsse epigenetischer Faktoren auf unser Körpergewicht und die klimatisch begründeten Besonderheiten in Bezug auf die Rohstoffanteile und deren Zubereitungen. Nicht nur den Gesamtenergiebedarf des Körpers, sondern auch die prozentualen Anteile der Organe, wie z.B. die des Gehirns (im Ruhezustand und bei anstrengender geistiger Tätigkeit), können wir genau berechnen. Trotz alledem will es offenbar nicht gelingen, eine allgemeingültige, d.h. für alle Menschen gleichermaßen zutreffende Aussage zur „richtigen“ oder „falschen“ Ernährung zu machen – und wie es scheint, auch zukünftig nicht.
Jene, die es dennoch zu wissen meinen, müssen sich mit ganzen Heerscharen anderer Auffassungen jeglicher Provenienz auseinandersetzen. Dabei prallen nicht nur Lehrmeinungen verschiedener Ernährungsinstitute aufeinander, wie z.B. die der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), dem Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE), Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), sondern zunehmend auch die Positionen von Umweltschutzverbänden (BUND) und Tierrechtsorganisationen (PETA); ebenso Verbänden, die Vegetarier und Veganer vertreten und sich kritisch zum Konsum und den Techniken unserer Lebensmittelproduktion äußern. Von den unzähligen gedruckten Ernährungsratgebern, beispielsweise mit ayurvedischen oder esoterisch gefärbten Auffassungen, von Slow-Food-, Foodwatch-, Weight-Watcher & Co.- Konzepten ganz zu schweigen. Es gibt zwar eine favorisierte Sicht, nämlich die der pflanzlich orientierten Ernährungsweise, aber deren Gültigkeit wird selbst von den Autoren der EPIC-Studie relativiert, die die Fünf-am-Tag-Kampagne ins Leben gerufen hatten3 und wird spätestens dann völlig unsinnig, wenn der Klimagürtel die Ernährung bestimmt. Demnach würden sich viele Kulturen, z.B. die Inuit, Mongolen, Massai oder die Yanomami-Indianer dauerhaft „ungesund“ ernähren.
Empirische Beweisbarkeit vom Nutzen einzelner Nahrungskomponenten
Die Diskussion darüber, wie viel Obst und Gemüse und wie wenig Fleisch gut oder schlecht sind, scheint inzwischen eine gedankliche Dynamik entwickelt zu haben, die sich jeder empirisch abgesicherten Beweisbarkeit entzieht und von der Versorgungswirklichkeit und tatsächlichen Gesundheitseffekten so weit entfernt ist, dass sie den Charakter einer virtuellen Ernährungswahrheit angenommen hat. Das Credo: Gesundheit und Fitness optimieren! Biologische Alterungsprozesse ließen sich zwar nicht stoppen, doch – mittels „richtiger“ Ernährung – aufhalten. Hat an diesen beglückenden Vorstellungen möglicherweise ein biologischer Mechanismus seine Hand im Spiel, nämlich unsere Fähigkeit zur autosuggestiven Stimmungsaufhellung qua Überzeugung/Glauben, den die Psychologen Placebo Effekt nennen?
Eigentlich sollte uns unser naturwissenschaftlich-empirisches Wissen aus der gedanklichen Enge vermuteter und gedeuteter Nahrungsfunktionen, wie sie beispielsweise im 2. Jahrhundert der griechische Arzt Galenos vertrat, befreien. Nach ihm hat die Nahrung und deren Zusammensetzung (gemäß seiner Viersäftelehre) Einfluss auf die Gesundheit und seelische Verfassung des Menschen. Zwischen dem Zustand der Gesundheit und Krankheit bestünde nach seiner Vorstellung ein fließender Übergang, eine Art Mittellage, die es durch eine entsprechende Prophylaxe in der Lebensführung im Gleichgewicht zu halten gelte, nämlich in Form der Diätetik (http://de.wikipedia.org/wiki/Galenos).
Die weltweit unterschiedlichen Vorstellungen, Vermutungen und Erklärungen zum Wert unseres Essens, über das was gesund ist, was besser gemieden werden sollte, lässt sich im Rahmen dieser hier angestellten Überlegungen nicht einmal nur ansatzweise befriedigend beantworten. Sie gehen zurück auf vorreligiöse und schamanistische Denkweisen, im Wesentlichen aber auf regionale Bedingungen und finden sich weltweit in allen Esskulturen und Glaubensrichtungen als Essregeln (wie z.B. in jüdischen und muslimischen Speisevorschriften). Der aktuelle Dissens, der zwischen Veganern und Tierrechtlern auf der einen Seite und Fleischessern (herabsetzend von Veganern als „Leichenfresser“ bezeichnet) auf der anderen Seite besteht, zeigt das ganze Ausmaß unvereinbarer Positionen (Stichwort: Kain und Abel). Die eigene Sicht zum richtigen oder falschen Essverhalten wird zum „Sollen“, zur Norm erhoben. Vor diesem Hintergrund ist es nicht mehr möglich, ohne klare Haltung zu dem, was man isst, als ethisch integrer Mensch zu gelten.
Also noch einmal die Frage: Wie erklärt sich das uns von der Wiege bis zur Bahre begleitende Streben nach Deutungshoheit über die richtige oder falsche Ernährung?
Versuch einer Kurz-Antwort:
Ernährung hat etwas mit großen und kleinen Molekülen zu tun, die während der Verdauung zu kleinsten Bausteinen zerlegt werden und so erst durch die Darmwand treten (resorbiert werden) können. Dieser „Durchtritt“ durch eine Zellmembran hat einen archaischen, evolutionsbiologischen Hintergrund, der seinen Anfang vor etwa 3 -2 Milliarden Jahren mit der Entstehung von Einzellern (Pro- und Eukaroiten) hatte. Dieser Stofftransport durch eine Membran unterscheidet sich nur unwesentlich von den mikroskopischen Prozessen in den Zotten der menschlichen Darmwand. Diese ist allerdings nicht (mehr) die Außenhülle eines Einzellers, sondern die nach innen gestülpte Resorptionsfläche eines „Vielzellers“ mit etwa 100 Billionen (!) Zellen. Folgerichtig muss diese Oberfläche der Darmwand so groß sein, dass genügend Nährstoffe hindurch-treten können, die ein Mensch innerhalb von 24 Stunden benötigt. Tatsächlich beträgt die Oberfläche des Darmes etwa 300 bis 500 Quadratmeter, ist also fast so groß wie zwei Tennisplätze, dehnte man ihn bis auf seine Mikrostrukturen aus. Was aber hat das mit unserer Fragestellung nach der “verminten” Diskussion über richtige und falsche Ernährung zu tun?
Die entscheidenden Darmstrukturen (Mikrovilli) – die Resorptionsvorgänge ermöglichen – liegen bereits auf einer Mikroebene, für die wir keinen „Sinn“ haben. Sie ist so klein, dass uns jegliches Relationsgefühl, jeder Bezug zur erfahrbaren Welt fehlt. Wir nehmen es zwar zur Kenntnis, dass unsere Nahrung im Darm mittels Enzymen der Darmflora (Teil des Mikrobioms) auf Molekülgröße zerlegt wird, können uns aber die reale Kleinheit der „Akteure“ (Nahrungsmoleküle, Rezeptoren, Ionenkanäle etc.) nicht vorstellen. Allein 18 Gramm Wasser enthalten 6 x 1023 (die Avogadro-Konstante) H2O-Moleküle (eine 6 mit 23 Nullen – die Physiker bezeichnen diese molare Masse als Mol.4 Es wird schnell deutlich, dass jede Mittagsmahlzeit (die etwa 600 Gramm wiegt) erheblich mehr Moleküle (unterschiedlichster Bausteine) enthält, als 18 Gramm Wasser. Die 600 Trilliarden H2O-Moleküle des Wassers (das Mol) muss man sich dreißig Mal vorstellen, dann haben wir etwa die Molekülmenge, die wir bei einer Mahlzeit aufnehmen.
Wenn Sie an dieser Stelle beginnen, an Ihrem Verstand zu zweifeln, dann sind Sie völlig normal. Wir haben für Dimensionen im Mikrokosmos unserer Nahrungskomponenten absolut keinen Sinn. Trotzdem aber haben wir – unser Organismus – ein „Messinstrument“ dafür: Wir „erfühlen“ (mit verschiedenen Sinnen) die Moleküle als Geruch, Geschmack und als Körperempfinden. Das Empfinden ist die physiologische „Antwort“ auf den jeweiligen Molekülmix, den wir gerade aufnehmen (aufgenommen haben).
Leider sind wir mit unserer gedanklichen „Zerlegungsarbeit“ unserer Nahrungsmaterie noch nicht am Ende. Denn selbst diese hier angesprochenen atomaren Größen der Bausteine sind wiederum aus weiteren unterschiedlichen und noch viel kleineren Teilchen aufgebaut, die physikalisch sowohl noch zu den „Teilchen“ zählen (können), tatsächlich aber nur noch mathematisch fassbare Energiezustände sind. Wer sich die Ausstellung im Universum in Bremen mit dem Titel: Im „Teilchen-zoo“ – auf den Spuren von Higgs, Quarks und Photonen – angeschaut hatte, bekam einen fantastischen Einblick in die Welt des Unsichtbaren. Und aus eben diesen subatomaren Materie-Bausteinen (Energiezuständen) bestehen nicht nur unsere Nährstoffe, sondern auch unsere Membranen der Darm- und Zellwände unserer Billionen Körperzellen.
Und was sagt uns das? Erklärt dieser Kosmos atomarer und subatomarer Sachverhalte unser Unvermögen, sich über das, was gesunde oder ungesunde Ernährung ist (sein soll) nun endlich einmal zu verständigen, ohne gedanklich „vermintes“ Terrain (z.B. ethische und religiös begründete Essvorschriften) betreten zu müssen? Selbst wenn wir die energetischen Sachverhalte unseres Essens mathematisch fassen und beschreiben könnten, bliebe ein noch gravierenderes, nicht lösbares evolutionsbiologisches Problem: Jeder Mensch trägt nur sein eigenes, unverwechselbares Genom (die Gesamtheit all seiner Gene) in sich, das ihn nicht nur optisch einzigartig macht, sondern ihn in seiner biologischen Fähigkeit, mit Nahrungskomponenten allgemein (mit Giften insbesondere) besser oder schlechter zurechtkommen lässt. Die Biologen führen diese verschiedenen Fähigkeiten auf den sog. Enzympolymorphismus zurück. Und selbst diese individuelle Varianz ist immer noch nicht der Schlusspunkt in unserer Ursachenforschung nach Gründen unserer vergeblichen Suche nach der „richtigen“ Ernährung.
Innerhalb der Biologie gibt es einen neuen Zweig, die Epigenetik. Sie belegt und erklärt die Wirkung der Umwelt auf den Menschen. Angefangen von sozialen Faktoren, Hunger, Krankheit bis hin zu psychischen Zwängen wirken epigenetische Faktoren auf unsere genetische Ausstattung, verändern ihre Effizienz, je nach aktuellen Umwelteinflüssen. Und wie? Gene können durch Anlagerung von Molekülen an die DNA (Acetyl– und Methylgruppen) an- oder abgeschaltet werden, sodass deren Genprodukte (z.B. Enzyme) fehlen oder aber in einer weniger effizienten Mittellage wirken. Zu der genetischen Anlage des Menschen kommen also auch noch seine individuellen „Lebensumstände“ hinzu, die weitere biologische Unterschiede/Dispositionen erzeugen, wie z.B. die Häufigkeit zu erkranken, unterschiedlich auf Tabletten oder auf Nahrungskomponenten zu reagieren.
Diese physikalischen und biologischen Hintergründe schließen eine für alle Menschen gültige „Ernährungsempfehlung“ definitiv aus – selbst wenn dabei Faktoren wie Alter, Geschlecht, Körpergröße, Arbeitsanforderungen etc. mit bedacht worden sind. Und deshalb sind alle Ernährungsratschläge mit Spekulationen behaftet – auch die wohlmeinenden, die im günstigsten Fall folgenlos sind (höchstens den Geldbeutel belasten), schlimmstenfalls Menschen in eine Essstörung treiben, hungern lassen und/oder wg. sinnloser Diäten Übergewicht erzeugen.
Es ist daher viel „gesünder“ auf seinen eigenen „Körper“ (seinen Appetit) zu hören, nämlich das zu essen, was einem schmeckt. Und wer mit seiner Figur unzufrieden ist, sollte etwas weniger stärkehaltige Lebensmittel verzehren (deren Glukoseanteile werden u.a. zu Fett umgebaut) und vermehrt Rohkost oder einfach etwas weniger essen. Problem: Der Körper misst/erkennt die Minderzufuhr und schaltet in einen dauerhaften Hungermodus. Das Bedürfnis, sich mal wieder richtig satt zu essen, wird zum steten Begleiter.
1So z.B. die „Nord-Karelien-“, „Framingham-“, „EPIC-“ oder „Nurses Health Studie“
2 Z.B. Hartenbach, W., 2008 „Die Cholesterin-Lüge“; Pollmer, U., Niehaus, M.. 2008 „Wer gesund isst, stirbt früher“
3„Eine Auswertung der EPIC-Studie im Journal of the National Cancer Institute (JNCI 2010; doi: 10.1093/jnci/djq072) ergab nur eine marginale protektive Wirkung“, in: www.aerzteblatt.de; 07.04.2010
4 Würde ein Computer eine Million Teilchen pro Sekunde zählen, benötigte er 20 Milliarden Jahre,
03.07.2014, 16:17 von Günther Henzel | 35233 Aufrufe
Aufrufe im Koechenetz
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