Vermutlich kannten bereits die Jäger und Sammler Techniken der Fleischlagerung. Das war immer dann von Nutzen, wenn große Tiere erlegt worden waren, deren schiere Fleischmengen man nicht auf einmal verzehren konnte und entsprechend „auf Vorrat“ an einem sicheren Ort zwischengelagert werden musste. Wenn sich diese Lagerung, vielleicht bei kühlem Wetter, über mehrere Tage – vielleicht sogar über Wochen – hinzog, veränderte sich das Fleisch: Es war zarter geworden und es schmeckte gehaltvoller. Diese Entdeckung haben sie also dem Zufall zu verdanken, der als Nebeneffekt durch die Lagerung eintrat. 
Wie kommt es eigentlich zu dieser Gefüge– und Aromaänderung in der Muskulatur, wenn wir Fleisch – wie wir das heute nennen – „abhängen“? 

Vorgänge bei der Reifung am Beispiel von Rindfleisch

Unmittelbar nach der Schlachtung hat das Fleisch noch einen pH-Wert von etwa 7,2 und ist damit sehr schwach basisch. Auch wenn kein Sauerstoff mehr in die Zellen gelangt, so „arbeiten“ weiterhin eine Vielzahl fleischeigener Enzyme (z.B. Kathepsine und später auch Milchsäurebakterien), die die Eiweißstruktur verändern. Die dafür benötigte Energie beziehen sie aus der Muskulatur, in der sich noch Fleischzucker (das Glykogen) befindet. Da dieser Zuckerabbau ohne Sauerstoff geschieht (man bezeichnet das wissenschaftlich als „anaeroben Abbau“), entsteht Milchsäure. Bei Rindfleisch fällt dadurch der pH-Wert innerhalb von 24 Stunden auf einen Wert von 5,4. Das Fleisch ist also „sauer“ geworden. Parallel zur Entstehung der Milchsäure wirkt ein zweiter „Abbauprozess“ während des Abhängens (ATP, der „Weichmacher“ im Muskel, wird abgebaut), bei dem auch eine Säure (Phosphorsäure) entsteht.

Effekt: Die feinsten Strukturen der Muskelfasern (die Myofibrillen Aktin und Myosin) ziehen sich zusammen (weil jetzt das ATP fehlt, das sie sonst „auseinander hält“) und bilden einen unlöslichen starren Komplex (die sog. Leichenstarre – in diesem Zustand ist das Fleisch weder genießbar noch lässt es sich durch Garvorgänge erweichen – es hat kaum Wasserbindevermögen – es bleibt zäh.
Diese Starre führt zudem zu einem Presseffekt, wodurch vermehrt Zellwasser in die Zellzwischenräume gelangt.
Die Säuren bewirken nun eine Umverteilung des „freien“ Gewebewassers in die Mikrostrukturen der Muskelfasern – genauer: des Bindegewebesund führen zu dessen Quellung. Dieser Vorgang ist das Ergebnis der Protonenaktivität (ihre Menge bestimmt die Stärke der Säure), die sich einen „Partner“ suchen (sie lagern sich als positiv geladene H3O+-Moleküle an die Aminosäuren des Bindegewebes), wodurch die Anzahl “aktiver” Protonen abnimmt und der pH-Wert allmählich wieder ansteigt. Bei einem pH von etwa 6,0 bis 6,4 sind schließlich so viele H3O+-Moleküle in das Bindgewebe eingedrungen, dass das Fleisch mürbe geworden ist.
Dieser Vorgang dauert bei Rind etwa 18 Tage (bei konstanter Kühlung).

Optimaler Reifepunkt

Der Genusswert einer Fleischspeise (hier: Kurzbratfleisch) hängt im Wesentlichen vom optimalen Reifepunkt ab (dieser ist je nach Tierart verschieden). Er ist dann erreicht, wenn sich durch ein ideales „Zusammenspiel“ (Synergieeffekt) aus Mürbheit, pH-Wert, aw-Wert, Aussehen und Geruch (sowie dem Anteil freier Amino- und Fettsäuren) eingetreten ist. 
Die Mürbheit lässt sich durch Fingerdruck ermitteln, der pH-Wert mit einem Messgerät, Geruch und Aussehen sind Erfahrungswerte, die nur der geübte und erfahrene Koch feststellen kann.
Ein Steak, das im Zustand des optimalen Reifepunktes saftig gebraten wird, löst beim Gast den höchsten Genusswert aus. Ist das Fleisch womöglich „überreif“, der pH um 7,0 (Wasser hat einen pH-Wert von 7 und schmeckt bekanntlich neutral), sinkt der Genusswert erheblich. Wird das Fleisch noch weiter gelagert, setzt schließlich der Verderb ein, der sich durch einen fleischtypischen Geruch ankündigt (bei Wild nennt man diesen Duft Hautgout).


Kochfleisch / Suppenfleisch benötigt keine 18 Tage Abhängzeit; das ist nur für Kurzbratfleisch erforderlich. Bei Rind reichen etwa 5-6 Tage.

Grund: Quellvorgänge, die das Fleisch mürbe machen, sind nicht erforderlich, da das Fleisch über lange Zeit im feuchten Milieu gegart wird. Es steht genügend Quellungswasser zur Verfügung, das nun „von außen“ in das Bindegewebe des Fleisches eindringt. Auch benötigen wir kein „Aromaoptimum“, da über Osmose und Diffusion eine Vielzahl von Aromakomponenten (z.B. aus Bukett Garni und Gewürzen u.a.m..) in das Muskelgewebe eindringt. Auch schmeckt die Bouillon „frischer“, wenn sie aus einem Fleischstück gezogen wurde, das noch „deutlich“ im sauren Bereich liegt. “Lange” gelagertes Fleisch macht die Bouillon leicht „seifig“ (wegen der basischen Aminosäuren).



02.09.2009, 21:07 von Günther Henzel | 28935 Aufrufe

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